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Leseprobe

Geborgt

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Und plötzlich fügt sich alles zur richtigen Zeit zusammen. Wir können tunneln. Wir haben ein eindeutig nichtnatürliches interstellares Signal empfangen, und wir haben es einem Planeten zuordnen können.

 

Der Transport funktioniert ungefähr so: Jedes Objekt hat eine Wellenfunktion seiner Aufenthaltswahrscheinlichkeit. Bei submikroskopischen Objekten jedenfalls ist das so, bei größeren nicht ganz, weil diese Wellenfunktion kollabiert und dem Objekt einen eindeutigen Ort zuweist.

Der Grund dafür, dass letzteres bei submikroskopischen Teilchen nicht der Fall ist, dieser Kollaps, ist in der Größe einer bestimmten Naturkonstante zu finden.

Die letzten Generationen von Physikern glaubten, dass Naturkonstanten immer und überall konstant sind… das aber stimmt nicht; lokal und zeitlich begrenzt können wir zumindest diese bestimmte Naturkonstante manipulieren. Auch schwere, große Objekte können sich somit mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit an weit entfernten Orten manifestieren. Das ist das Tunneln.

 

Dieser Vorgang erfordert ungehörige Energiemengen. Die bereitzustellen ist unmöglich, auch heute noch, aber auch hier konnten wir das Verhalten des Allerkleinsten in unsere großen Maßstäbe „hochziehen“: Wie bei der Vakuumenergie Teilchen – und damit Energie – ständig entstehen und vergehen, also für kurze Zeit geborgt sind, können wir dieses Prinzip auf große Maßstäbe anwenden: Wir borgen uns die Energie für eine gewisse Zeit, durch den Kollaps der Wellenfunktion am Ende der Tunnelreise geben wir die Energie wieder zurück.

 

Wir waren zwei Handvoll Personen, alle Spezialisten in ihrem Bereich. Eine homogene Gruppe, alle etwa in der Mitte ihres Lebens. Die uniformartige Kleidung tat ihr Übriges, so dass wir bei flüchtiger Betrachtung kaum unterscheidbar waren.

Mein Spezialgebiet war die Geomantie, so nannten das zumindest einige abschätzig. Egal, wie man dazu steht, ich besaß die Fähigkeit, Orte zu finden, die besonders waren. Durch die unerhört lange Reisedauer der Funksignale des Planeten zu uns erwarteten wir, dass die Zivilisation schon lange nicht mehr besteht, der Planet wahrscheinlich wüst ist und kaum noch besondere topographische Eigenschaften besitzt. Mit meiner Fähigkeit sollten wir in der Lage sein, Orte, an denen eine Grabung lohnt, zu identifizieren.

 

Das Tunneln selber verlief nicht genau so, wie ich es mir vorstellte. Es gab mehrere Zwischenstopps, von kurzer Dauer nur: einige Minuten im Raumanzug auf einem toten, kleinen Himmelskörper ohne Atmosphäre. Immerhin war damit erkennbar: Es wurde immer dunkler um uns herum. „Interstellar“ stimmte offenbar nicht, eher intergalaktisch, wir befanden uns zunehmend in Bereichen geringerer Sternendichte. Jeder der kurzen Zwischenstopps beklemmte mehr und mehr durch seine enorme Einsamkeit. Warum sie uns dieses Detail der Reise nicht vorher erklärten, weiß ich bis heute nicht.

 

Wir fanden einen trockenen Planeten vor, wie erwartet mit nur wenigen herausstechenden topographischen Merkmalen, sprich: eine große Wüste. Und, das ist selten und weniger wahrscheinlich, aber nicht unmöglich, mit etwas größerem Durchmesser als die Erde bei kleinerer Gravitation.

Aber wir konnten uns gut fortbewegen, dazu hatten wir auch ein paar Fluggeräte dabei, und unsere Luft- sowie sonstigen Vorräte sollten uns Zeit genug geben, gründlich zu suchen.

Die Überflüge waren genauso eintönig wie die Landschaft. Aber nach einiger Zeit –interessanterweise habe ich die Flugdauer nicht dokumentiert, obwohl ich das hätte tun sollen und müssen – überflog ich einen Ort, der zwar mehr oder weniger so aussah wie alle anderen Orte hier – langgezogene Dünen aus Sand, die wie gefrorene Wellen aussahen – aber am Grund eines Wellentals einer solchen Düne war es eindeutig und nicht zu überspüren: „Landen lohnt sich.“

Ich rief die Kollegen, wir gruben, sondierten, maßen, und fanden: eine Wand aus Fels mit einer Türe. Der Mechanismus zum Öffnen war so selbsterklärend wie robust, wir konnten die Tür, die im Übrigen ziemlich imposante Abmessungen hatte, trotz offenbar vieler vergangener Jahrtausende leicht öffnen. Es erwartete uns eine Halle, wir erwarteten technische Einrichtung und wir wurden nicht enttäuscht. Wozu diese Einrichtung einst diente, erschloss sich uns nicht sofort, wir fühlten uns jedoch an den Technikraum eines Schwimmbades erinnert. Wenn auch in wahrhaft größerem Maßstab.

In der Tat erheblich interessanter war ein Raum an der Seite, dank durchsichtiger Wände leicht als Lager erkennbar. Es gab dort schier unendliche Reihen von Kästchen auf Regalen. Auch hier fanden wir eine technisch hervorragend gebaute Tür, für jedermann zu öffnen, aber selbst nach Jahrtausenden noch luftdicht.

Die Objekte auf den Regalen waren Kassetten, in denen wiederum Kassetten waren, und in diesen befanden sich kleine, fingernagelgroße Bauteile. Alle paar Dutzend Meter sahen die Kassetten sowie die darin enthaltenen Objekte ein wenig anders aus. Und an der Grenze jeder dieser Übergänge befand sich ein handtellergroßes Objekt, versehen mit einem Piktogramm, das es uns leicht machte zu verstehen, dass die Objekte Speichermedien mitsamt deren Abspielgeräten waren. Hier wollte jemand keine Geheimnisse machen, kein Versteck spielen – jeder, jede und jedes sollte ermöglicht werden, die Speichermedien abzuspielen. Auf der gegenüberliegenden Wand wurde das Bild angezeigt.

Was war darauf zu sehen? Eine Welle wurde gezeigt, dutzende, wenn nicht hunderte Meter hoch, Wasser, mit Lebewesen darin, die sichtlich Spaß hatten, auf dieser Welle zu schwimmen, mit der Welle nach unten zu schießen, ins Wasser einzutauchen.

Jedes dieser Medien zeigte dasselbe Motiv, denselben Ausschnitt. Und im Grunde denselben Vorgang: Es war dieselbe Welle, wie sie auf dieselbe Art brach, mit denselben Schwimmern darin. Nun, nicht ganz dasselbe – es gab sehr kleine Änderungen im Detail. Hier ein Wellenkamm, der kurz später oder früher als im vorherigen Film bricht, hier eines der Wesen mit einer klein wenig anderen Körperhaltung.

Ein „Vorspulen“ war indes nicht möglich: Die Speichermedien waren der Reihe nach sortiert (erkennbar durch ein leicht zu interpretierendes Punktsystem) und mussten der Reihe nach abgespielt werden. Das war das erste Mal, dass es uns nicht leicht gemacht wurde: Alles abspielen, bevor wir am Ende sehen dürfen, um was es geht? Wie soll das gehen, bei dieser Menge an Speichermedien? – die Aussicht auf die ewig langen, nicht enden wollenden Regalreihen vergesse ich niemals mehr.

Und in der Tat weiß ich nicht, bis heute nicht, wie es uns gelang, wie das zeitlich klappte. Aber wir schauten uns jedes einzelne Medium an und sahen Änderungen: Es wurden tendenziell weniger Schwimmer, das Wasser veränderte seine Farbe, von hellem, durchsichtigem Blau nach einem trüberen, dunkleren Farbton. Und die Wassermenge nahm ab. Die Perspektive der Kamera jedoch war immer identisch – und noch ein weiteres Element änderte sich nicht, oder nicht in dem erwarteten Maß: Am Anfang und Ende einer jeden Aufnahme war jeweils der Sternenhimmel zu sehen. Wir gingen anhand der sichtbaren Änderungen davon aus, dass die Aufnahmen täglich gemacht wurden und viele tausend Jahre überbrückten, aber das müsste sich an kleinen jahreszeitlichen Änderungen des Sternenhimmels widerspiegeln.

Es war zwar ein uns unbekannter Sternenhimmel, natürlich, hier ganz weit draußen, aber auch hier galt: Sterne bewegen sich vor ihrem Hintergrund; über lange Zeiträume würde man diese Änderungen auf den Aufnahmen sehen müssen.

Aber hier war nichts zu erkennen, keine Änderung, vom sich wiederholenden Tagesverlauf abgesehen. Der Sternenhimmel zeigte immer denselben Tag an.

 

Zurück zum Wasser: Es zog sich zurück. Zunehmend, von Aufnahme zu Aufnahme, kam ein Strand ins Bild. Es kamen immer mehr der Lebewesen ins Bild, am Strand, nur noch wenige im Wasser: Sie waren uns nicht ganz unähnlich, länger und feingliedriger, zur geringeren Gravitation dieses Planeten passend.

Irgendwann erkannte man, wie eine Handvoll dieser Lebewesen an Seilen etwas hinter sich herzog. Das gezogene Objekt war noch nicht im Bildausschnitt zu sehen, was sich aber im Laufe der nächsten vielen Aufnahmen änderte. Gezogen wurde ein weiteres Lebewesen, kleiner, gedrungener, plumper.

Trug es eine Kleidung, die der unseren ähnelte? Schon, aber verschlissen. Verschlissen an Farbe und Stoff, nicht aber zerrissen.

Ähnelte das Lebewesen nicht einem von uns? Ich sage nicht, wen wir darauf zu erkennen glaubten und werde das niemals. Aber es war einer von uns. Graue Haare, Bart, Falten, weniger geschmeidige Körperbewegung – mit einem Wort: Einer von uns, aber dutzende von Jahren älter.

 

Er kam immer mehr ins Blickfeld der Kamera. Im Hintergrund immer noch die Welle, nun deutlich kleiner als zuvor, nunmehr mit kaum einem Schwimmer darin.

Die Schädeldecke des Kollegen wurde geöffnet. Blut und weiteres, das ich hier nicht darlegen will, spritzte heraus, schwoll heraus, in einer Welle, die die Form der Welle der Schwimmer im Hintergrund hatte, diese überdeckte, perfekt abdeckte, genau dieselbe Form hatte.

©2021-2025 by Michael Fritsche

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